Einleitung

Demenz ist nicht nur ein gesundheitliches, sondern auch ein soziales Thema. Betroffene werden oft stigmatisiert und ziehen sich zurück, was sich negativ auf die Lebensqualität und die Zufriedenheit auswirken kann.

Ein gutes Leben mit Demenz ist für die Stadt Wien ein wichtiges Anliegen. Wie in den meisten modernen Gesellschaften werden auch hier die Bewohner:innen älter und sind häufiger von Demenz betroffen. Vor diesem Hintergrund führte MAKAM Research im Auftrag des Fonds Soziales Wien (FSW) eine qualitative Studie zum Thema Demenz durch, um die Sichtweise von Betroffenen und Angehörigen zu erfassen. Dabei orientierten wir uns an vier Themenfeldern der Wiener Demenzstrategie: Bewusstseinsbildung, Teilhabe, Orte des täglichen Lebens und Unterstützungsangebote.

Um diese Prozesse im Detail analysieren zu können, wurden Gruppendiskussionen mit pflegenden und nicht-pflegenden Angehörigen geführt. Die Perspektive der Betroffenen wurde zusätzlich mittels biographischer Interviews erfragt, die wir teilweise mit Unterstützung von Angehörigen durchführten.

Die Sicht der Angehörigen

Die an den Gruppendiskussionen teilnehmenden Angehörigen begleiteten ihre betroffenen Familienmitglieder unterschiedlich lange. In den Gruppen wurde Demenz durchgehend als belastendes, mitunter aufreibendes Geschehen erlebt. Die negativen Emotionen entstehen nicht nur, weil die Diagnose Demenz mit Unsicherheit verbunden ist, sondern auch, weil viele mit der Situation überfordert sind. Ihnen ist oft nicht bewusst, was auf sie zukommt. Die meisten Angehörigen meinen, dass die Situation nur durch eine Kombination eigener Ressourcen und professioneller Unterstützung bewältigt werden kann. Dabei beobachten manche in der eigenen Familie eine Polarisierung, bei der sich einige Familienmitglieder für die Betreuung des:der betroffenen Angehörigen einsetzen, während sich andere abwenden und zurückziehen.

Die betreuenden Angehörigen sind oft auf Veränderungen im Umgang mit ihren erkrankten Familienmitgliedern nicht vorbereitet. So kann der Demenzprozess bei den Erkrankten Aggression, Wut und Misstrauen auslösen; Angehörige werden angefeindet und beschimpft. Ohne das Wissen um Bewusstseinsveränderungen infolge der Demenzerkrankung ist es schwer, diese Emotionen nicht persönlich zu nehmen, sondern sie als Teil der Krankheit zu verstehen und in der Situation richtig einzuordnen.

Erste Informationen beziehen die meisten aus dem Internet, weswegen es dort gut strukturierte, an lokale Gegebenheiten angepasste Informationen braucht. Auch Hausärzt:innen sind eine wichtige erste Anlaufstelle, wobei die Hausärzt:innen nicht immer die richtigen Schritte setzten. In einigen Fällen leiteten sie rasch die notwendigen Schritte ein und vermittelten die Patient:innen an die richtigen Stellen. Es kam jedoch auch vor, dass sie Medikamente gegen andere Krankheiten verschrieben und es dabei beließen.

Abhängig von Schweregrad der Demenz griffen Angehörige auf vier Formen der Unterstützung zurück: Heimhilfen, Tageszentren, 24-Stunden-Betreuung und Wohn- und Pflegeeinrichtungen. Mit Heimhilfen und der 24-Stunden-Betreuung machten die Angehörigen gemischte Erfahrungen. Der Personalwechsel wird als irritierend erlebt und 24-Stunden-Betreuer:innen betreuen nicht immer sachgemäß und zufriedenstellend.

Eine sehr hilfreiche Form der Unterstützung sind Tageszentren, die die Angehörigen im Alltag entlasten und den Betroffenen Abwechslung, sozialen Kontakt und ein Gefühl von Zugehörigen bieten. Zusätzlich versorgen sie die Angehörigen mit hilfreichen Informationen. Angehörige sehen Unterstützungsbedarf vor allem in der Kommunikation und Interaktion mit ihren erkrankten Familienmitgliedern und in der Anfangsphase wünschen sie sich Wissen über die Alltagsbewältigung.

Die Rückzugstendenzen der Betroffenen, die durch Schamgefühle noch verstärkt werden, und von Angehörigen und Freunden können zu Vereinsamung führen. Diese Entwicklungen wurden in Einzelfällen überwunden. Sie lassen sich durch Angebote an außerhäuslichen Aktivitäten und durch Förderung sozialer Teilhabe für Angehörige und Betroffene abfangen.

Bei der Bewusstseinsbildung gibt es großen Aufholbedarf. Zwar wissen die Angehörigen, dass Polizist:innen und Begleitpersonal in öffentlichen Verkehrsmitteln im Erkennen und im Umgang mit demenzerkrankten Personen geschult werden. Wien verfolgt zudem eine Strategie, die sich an der Idee einer demenzfreundlichen Stadt orientiert. Dieses Konzept sollte noch besser im Bewusstsein der Bevölkerung verankert werden.

Die Sicht der Betroffenen

Mittels der narrativen biografischen Interviews wurde die Sicht der Betroffenen herausgearbeitet. Im Fokus standen biografische Übergänge, die individuelle Verarbeitung einer Demenz-Diagnose und Neu-Orientierungen etwa bei der Nutzung von Tageszentren.

Diagnosen waren manchmal ein überraschender Zufallsfund, der im Zuge anderer Untersuchungen gemacht wurde. In anderen Fällen ging der Diagnose eine längere Phase der Ungewissheit voraus. Oft wird die Diagnose in Form einer Kausalerklärung eingeführt, was den Betroffenen hilft, die Krankheit als Gegebenheit zu akzeptieren oder sich vor Stigmatisierung zu schützen. Die Diagnose kann aber auch geleugnet werden, weil sie nicht in das Bild passt, das sich die Betroffenen von einer Demenzerkrankung machen, oder weil die Symptome als Begleiterscheinung des Alterns wegerklärt werden. Von der Haltung zur Diagnose hängt oft ab, wie sich die Betroffenen auf die Situation einlassen, ob sie Informationen oder Unterstützung suchen und medizinisch-therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen.

In den individuellen Biografien finden sich Rückzugsorientierungen ebenso wie Bewältigungsorientierungen und neue Sinnstiftungen. Dies hängt mit individuellen Gegebenheiten und der Einstellung zur Krankheit zusammen, die die Betroffenen entwickeln. So kann es sein, dass demenzerkrankte Personen im Frühstadium Rollen als Helfer:innen im Alltag einnehmen und Aufgaben für Nachbar:innen übernehmen, die sie noch bewältigen können (z.B. Einkaufen gehen). In manchen Fällen machen sie ihre eigene Krankheit zu einem öffentlichen Thema, halten Vorträge und organisieren Workshops, um Erfahrungen und Wissen zu teilen und Stigmatisierung entgegenzuwirken. Tageszentren erweisen sich als wichtige Orte der sozialen Teilhabe, in denen neue Rollen eingenommen werden können, was wiederum die Bewältigungsorientierung stärkt und zu neuem „Aufblühen“ der Erkrankten führt.

Informationen erhalten die Betroffenen von eigenen Angehörigen, aus dem Internet oder von Personen aus dem Gesundheits- und Sozialsystem, etwa Hausärzt:innen. Eine wichtige Rolle spielt das Personal der Tageszentren. Die Angehörigen und die Tageszentren stellen auch zwei wichtige Ressourcen bei der Unterstützung in der Alltagsbewältigung dar. Daneben werden auch präventive Angebote wie Gedächtnistrainings und Kreaktivangebote für Körper und Geist genannt. Diese fokussieren nicht auf Demenz und wurden unabhängig von der Diagnose genutzt. Einsamkeit war oft ein belastendes Thema für die Betroffenen. Sie wurzelt nicht nur im Krankheitsgeschehen, sondern auch im Verhalten von Verwandten und Freund:innen, die sich aus unterschiedlichen Gründen zurückziehen.

Ausblick

Die Befragten betonen die Bedeutung von Wissen über Demenz und engagieren sich in einem Fall als Vorbilder, die ein gutes Leben mit Demenz vermitteln. Von einer „demenzfreundlichen“ Kultur, in der Demenz nicht stigmatisiert wird und Menschen mit Demenz ein normales Leben so weit wie möglich zugestanden wird, sind wir aus Sicht der Studienteilnehmer:innen noch weit entfernt. Eher würden Egoismus, Mangel an Empathie und ein höfliches Desinteresse vorherrschen.

Die Entwicklung einer demenzfreundlichen Kultur ist Teil einer Kultur des aktiven Alterns in all seinen individuellen Besonderheiten, die leidvoll und schwierig, aber auch freudvoll und bereichernd sein können. MAKAM Research sieht diese Themen auch im Kontext einer neuen Kultur der Sorge, die wir in verschiedenen Handlungsfeldern von Alltag und Arbeit als Forschungs- und Beratungsunternehmen thematisieren.

 

Weitere Informationen finden Sie auf der FSW Website unter: https://www.fsw.at/downloads/kundinnenbefragung/demenzstudie-qualitativ_22_23.pdf