Welche psychosozialen Auswirkungen haben Ausgangsbeschränkungen für vulnerable Zielgruppen?

Gesundheit hat viele Facetten

Mit den seit März 2020 erlassenen Abstandsregelungen und Kontaktbeschränkungen war der Schutz vor einer Infektion mit dem Coronavirus das primäre Ziel der österreichischen Regierung. Zu Hause und gesund bleiben, lautet das Gebot. Aber um welchen Preis?

Noch immer – mehr als ein Jahr seit Beginn der Pandemie – sind Lockdowns keine Seltenheit.

MAKAM Research stellte sich deshalb bereits im Herbst 2020 die Frage, wie vulnerable Gruppen mit dem Lockdown zurechtkommen. Welche psychosozialen Folgen bringen Ausgangssperren mit sich?

Ziel der Studie ist es herauszufinden, wie chronisch kranke Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit den Maßnahmen während des und nach dem ersten Lockdown umgegangen sind, wenn ein Großteil der außerhäuslichen Aktivitäten computervermittelt in den eigenen vier Wänden stattfinden mussten.

Methodik

Es wurden 38 Online-Fragebögen ausgewertet, die entweder von den Befragten selbst oder (bei unter 14-Jährigen) von ihren Eltern ausgefüllt wurden. Im Fokus stehen (ehemalige) PatientInnen des AKH, die sich aktuell wegen unterschiedlicher Beschwerden in Behandlung oder derzeit in Nachsorge befinden. Dazu zählen:

  • onkologische Erkrankungen
  • Neurofibromatose
  • Lernschwierigkeiten

20 Personen sind weiblich, 18 männlich. Das Durchschnittsalter beträgt rund 19 Jahre, wobei die jüngste Person 8 und die älteste 37 Jahre alt ist. Der Fragebogen bietet unter anderem 18 verschiedene Emotionen, die vom AKH entwickelt und grafisch aufbereitet wurden, um ein differenziertes Bild über die Gefühlslagen der Befragten zu erhalten. Jede Person konnte 3 Emotionen auswählen, um jeweils zu beschreiben, wie sie sich während des und nach dem Lockdown gefühlt hat. Die Gründe für die Wahl werden durch offene Nennungen untermauert.

Die Zeit während des Lockdowns ist von Unsicherheit, Überforderung, aber auch von Gleichgültigkeit geprägt

Der Grundtenor ist vor allem in der Zeit der Ausgangssperre durchwachsen und reicht von Genervtheit über Gleichgültigkeit bis hin zu Erleichterung und Zufriedenheit.

Vor allem Kinder und Jugendliche sind primär genervt. Der Grund liegt häufig in der Umsetzung des Home-Schoolings: Der Fülle an Hausübungen stünde zu wenig Hilfe durch die Lehrkräfte zur Verfügung; es gebe „viel zu viele Aufgaben […], die man in kürzester Zeit machen musste“ und die Aufgaben würden „nicht so gut erklärt“. Durch das seltenere Feedback von Lehrkräften könne die eigene schulische Leistung nicht richtig eingeschätzt werden. Die Verunsicherung werde dadurch vergrößert, dass ein Ende des Lockdowns zu dem Zeitpunkt nicht abzusehen sei: „Wie lange würde dieser Zustand gehen? Wie weit würde es [das Virus] sich ausbreiten?“. Ähnlich geht es Erwerbstätigen, die unter „weniger informelle[m] Austausch/Pausen mit Kolleg*innen“ leiden.

Ein etwa gleich großer Anteil steht dem Lockdown gleichgültig gegenüber, da sich kaum etwas an der Lebenssituation verändert habe. Es sei „nicht das Tollste auf der Welt, aber auch nicht das Schlechteste“. Vor allem Schüler fühlten sich zwar prinzipiell selbstständiger, seien aber bei der Menge an Lernstoff überfordert und unsicher, „weil mir niemand helfen kann“.

Dass die eigenen vier Wände aber auch als eine Art Refugium dienen können, wird bei Befragten deutlich, die ihre Zeit zu Hause bei der Familie genießen. Sie fühlen sich allgemein produktiver und auch sicher – z.B. vor einer Ansteckung. SchülerInnen profitieren von der Zeit mit ihren (Groß-)Eltern, da sie die nötige Hilfe beim Lernen erhalten. Auffallend ist hier die Rollenübernahme der Lehrkraft durch die Erziehungsberechtigten: Um der angesprochenen Überforderung entgegenzuwirken, lernen sie intensiver mit ihren Kindern.

Glücklich, erleichtert, fröhlich: „Endlich wieder unter Menschen“

Betrachtet man die allgemeine Gefühlslage nach dem ersten Lockdown, verschiebt sich das Bild spürbar: Die durchwachsene Stimmung während der Ausgangsbeschränkung weicht einer fast schon euphorischen, da sich über die Hälfte der Nennungen auf das „normale“ Schul- bzw. Arbeitsleben bezieht. Darunter fallen vor allem das Wiedersehen mit MitschülerInnen, LehrerInnen bzw. KollegInnen, aber auch die effizientere Lehrgestaltung im Präsenzunterricht. Gerade für Erwerbstätige, die wieder ihre Tätigkeit aufnehmen, bedeutet die Rückkehr in den (geregelten) Arbeitsalltag, dass sie „endlich wieder etwas tun können“ und „endlich wieder eine Aufgabe im Leben haben“, auch wenn sie dafür im Falle von Kurzarbeit nur an zwei Tagen in der Woche aus dem Haus kommen.

Nicht alle Reaktionen auf das Ende des Lockdowns sind eindeutig positiv. Einige SchülerInnen sind schlicht neugierig und aufgeregt, weil sie nicht wissen, wie der Präsenzunterricht fortgeführt wird. Allerdings geht die Aufregung mit gemischten Gefühlen einher, weil sich eine gewisse Distanz zu FreundInnen bemerkbar macht: „Meine Freunde waren so abgegrenzt, obwohl ich ja eigentlich nichts getan hatte“. Auch die fehlende Einhaltung der Regeln erhöhe das Ansteckungsrisiko und sorgt bei den Befragten für Verunsicherung und Wut.

Aus den Eindrücken während und nach der ersten verhängten Ausgangssperre wird eines deutlich: Unabhängig vom Alter und der Beschäftigung ist der zwischenmenschliche Kontakt eine wichtige Voraussetzung dafür, dass das Leben in Krisenzeiten, die von Unsicherheit geprägt sind, nicht aus den Fugen gerät. Bei SchülerInnen können Eltern einen gewissen Ersatz oder eine Ergänzung zur Lehrperson bieten, sofern die digitale Betreuung nicht ausreicht. Hier kommt es aber auf die Erwerbssituation und Arbeitszeit der Eltern an. Den körpernahen Kontakt zu Freunden zu ersetzen, gestaltet sich weitaus schwieriger. Deshalb ist die Erleichterung über das vorläufige Ende einer Ausgangssperre groß.

Ideale Situation: „Ganz normal wie früher“ – und doch irgendwie anders

Auch wenn die Ausgangsbeschränkungen in einigen Fällen sogar positive Effekte haben, wünscht sich der Großteil der Befragten die Zeit vor Corona zurück. In der zurückgewünschten „Normalität“ schwingt der Wunsch nach dem gewohnten Bewegungsspielraum mit, der durch Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen eingeschränkt wird. Trotzdem sehen sowohl Erwerbstätige als auch SchülerInnen einen gewissen Vorteil im Home-Office bzw. Home-Schooling, solange dieser in einem ausgewogenen Verhältnis steht. So bestünde die ideale Situation in einem „[guten] Mix aus regelmäßigem Home-Office und am Arbeitsplatz sein“. Gerade Erwerbstätige merken, dass auf ihre Erkrankung während Corona Rücksicht genommen wird.

Fest steht, dass es für die Befragten während der Pandemie keine ideale Situation geben kann, solange das Risiko, zu erkranken und Mitmenschen anzustecken, bestehen bleibt. Da ihnen der zwischenmenschliche Kontakt in einer gewohnten Umgebung außerhalb der Familie fehlt, bleiben die Beschränkungen ein großes Hindernis. Wichtige Ansätze sind jedoch das Verständnis auf Seiten der Unternehmen bzw. der Schulen und die unterstützende Rolle der Eltern. Digitalisierung wird zwar durch Corona offensiv vorangetrieben – den Wunsch nach physischem Beisammensein kann sie jedoch nicht erfüllen.

Die vollständige Studie finden Sie hier!

Ansprechpartnerin:
MAKAM Research GmbH
Frau Mag.a Ulli Röhsner
Tel.: 01 / 877 22 52
E-Mail: u.roehsner@makam.at