Gamifizierte Auseinandersetzung mit eigenen und fremden Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit

(MAKAM Research, Juni 2021) Geschlechtliche Identität und Geschlechterverhältnisse sind in allen komplexen Gesellschaften ein zentrales Element der Sozialstruktur, das vielfältig gestaltet ist und sich nicht auf einfache Stereotype reduzieren lässt. So weist nicht nur die Zielgruppe von GIG, also Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und dem Irak einen großen Grad an Inhomogenität auf – auch deren Geschlechterrollen und Vorstellungen von geschlechtlicher Identität variieren stark. Mannsein und Frausein in einer modernen Gesellschaft reflektieren keine Gruppenzugehörigkeiten, die über Statusrollen im Rahmen einer Geschlechterordnung vermittelt sind. Vielmehr spiegeln sie Erfahrungen von Individualität im sozialen Beziehungsraum wieder, die sich in den verschiedenen Zusammenhängen des sozialen Lebens, wie Familie, Arbeit, Schule, Freunde, bilden.

(Sozio-) demographische Einflussfaktoren auf genderspezifische Werte

Trotzdem lassen sich soziodemographische Einflussfaktoren erkennen, die für die Entwicklung von geschlechtsspezifischen Werten und Normen und den darauf basierenden Geschlechterrollen von Bedeutung sind. Regionale Unterschiede der Herkunftsländer sowie jene zwischen dem städtischen Leben und jenem in ländlichen Regionen, aber auch das Alter, der Bildungsstand, der Erwerbsstatus und die erfahrene Sozialisierung aufgrund der Herkunftsfamilie sowie die (praktizierende) Religionszugehörigkeit haben Einfluss auf unterschiedliche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.

So sehen die interviewten ExpertInnen vor allem in der Bildung und der sozialen Schicht einen wesentlichen Einfluss darauf, wie Geschlechterrollen wahrgenommen und bewertet werden: Die Vermittlung von Informationen sei prinzipiell leichter, wenn die Zielperson bestimmten Themen offener gegenüberstünde, was vor allem bei MigrantInnen zu beobachten sei, die einen höheren Bildungsstand aufweisen. Das Milieu des Heimatlandes gebe besonders im Kindesalter wiederum eine gewisse Grundhaltung gegenüber Geschlechterverhältnissen vor:

„In den Familien, viele Sachen werden von Kindheit an geprägt, in unserer Persönlichkeit, wenn das Kind sieht, dass die Mutter immer zu Hause ist und sieht, dass Männer immer draußen sind, sogar mit Kindern spielen […] es ist für einen Bub nicht normal, dass er zum Beispiel mit Geschirr oder in der Küche arbeitet […]“

„Es gibt schon gebildete, syrische Jugendliche zum Beispiel, die auch aus gebildeten Familien kommen, wo natürlich Gleichberechtigung und solche Dinge nicht sehr abweichen von unserer Vorstellung in einer gewissen Bildungsschicht.“

Damit verbunden seien auch Fluchtgründe wie Homosexualität oder eine liberalere politische Ausrichtung mögliche Erklärungsansätze für die unterschiedliche Wahrnehmung der Geschlechter. Die Betroffenen seien weniger den traditionellen Rollenbildern verhaftet, während „jemand, der weg muss, weil sein Haus zerbombt ist und vielleicht von heute auf morgen beschließt, ich gehe und lasse meine Familie zurück, […] möglicherweise eher in dem verharrt, was er da spontan zurücklassen musste“.

Die Einstellungen von Geflüchteten aus Afghanistan seien außerdem tendenziell konservativer und traditioneller als von jenen aus den anderen Herkunftsländern und in ländlichen Regionen, aber auch Stadt-Landunterschiede prägen traditionelle Geschlechterrollen:

„Da gibt es sehr große Unterschiede zwischen Irak und Syrien und Afghanistan. Irak und Syrien sind ähnlich wie Österreich, Afghanistan ist was anderes.“

„Und ob ich einen irakischen Klienten oder einen afghanischen Klienten vor mir sitzen habe, ist ein gewaltiger Unterschied.“

„In Dörfern zum Beispiel halten sie sich an Traditionen.“

Tradition ist ein wichtiges Stichwort, unter anderem im Zusammenhang mit der Religionsausübung, weil sie ExpertInnen zufolge dem Mann erlaube, Macht über die Sexualität der Frau auszuüben:

„Die 20% [der Asylberechtigten in der Einrichtung] nehmen Religion nur als Vorwand für Macht und Kontrolle bezüglich sexueller Sachen. Diese 20% haben die Meinung, wenn sie die Frau kontrollieren können, dann können sie die Berührung als sexuell betiteln. Dass Gefühle beim Handgeben dabei sind, obwohl das ja gar nicht stimmt.“

„Die wenigsten werden denken, dass Allah sagt, man muss sich als Frau verhüllen. Das ist einfach die Tradition“.

Haushalt und Kindererziehung bleiben Frauendomäne

Traditionell gefestigt sei auch die Trennung von „Innen“, also der Hausarbeit und Erziehung und „Außen“, also der Erwerbstätigkeit. Diese Sphären seien mit dem Geschlecht verbunden, denn auch wenn die Vorstellungen je nach der Positionierung zwischen liberalen und konservativen Einstellungen auseinandergehen, lässt sich festhalten, dass Frauen häufiger

„[…] daran gemessen werden, wie brav die Kinder sind, weil es ist immer noch dieses verankerte, ich bin für das Innenleben, sozusagen für die Kinder und die Familie und der Mann schafft das Geld nach Hause, und wenn innerhalb der Familie irgendetwas nicht stimmt, dann muss ich dafür geradestehen. Und diese Frauen haben – sage ich mal vorsichtig – wenig, woran sie gemessen werden können […].“

Daraus ergeben sich in der Aufnahmegesellschaft mehrere Hürden für Frauen, wenn sie selbstständig, d.h. unabhängiger von ihren Partnern sein wollen – angefangen beim Erlernen der Sprache. Dessen sind sich sowohl ExpertInnen als auch interviewte Asylberechtigte weitgehend einig. Besonders den ExpertInnen falle vermehrt auf, dass Frauen eher gewillt seien, sich auf das Wertesystem in Österreich einzulassen, das ihnen ein neues Rollenverständnis und neue (Berufs-)Chancen ermögliche, die sie in den Herkunftsländern wegen des patriarchalischen Systems nicht gehabt hätten.

Sprache als „Instrument der Integration“

Sprache schafft die Basis für eine zwischenmenschliche Verständigung und ist deshalb für integrative Prozesse grundlegend. Für die Teilnehmenden ist sie zunächst vor allem Mittel zum Zweck, weil so die Aufnahme eines Berufs und allgemein eine selbstständigere Lebensweise erleichtert wird. Das ist allen TeilnehmerInnen bewusst und vor allem bei den weiblichen Asylberechtigten wird deutlich, dass sie im Erlernen der Sprache eine Möglichkeit der Emanzipation aus ihrer Herkunftsfamilie und einen Zugang zum gesellschaftlichen und Arbeitsleben sehen. In einem Fall äußert sich die Abhängigkeit darin, dass die Frau nicht aus dem Haus gehen will (und ohnehin nicht darf), während der Partner sich um das Einkommen kümmert (und somit eher Gelegenheit zum Spracherwerb hat). Daraus ergibt sich eine riskante Kettenreaktion: Die Frau ist vollständig vom Partner abhängig, weil sie die Sprache nicht spricht und keine Möglichkeit erhält, sie zu lernen.

Ungleicher Netzwerkaufbau

Ohne Sprachkenntnisse bleibt Frauen auch der Zugang zu Bildung oder Arbeit verwehrt. Andere Kontakte als zum Partner und/ oder der Familie sind ohne Verständigungsmöglichkeit nur schwer aufzunehmen – derlei Abschirmung beeinflusst das Selbstwertgefühl und birgt das Risiko, zu vereinsamen. Ferner kann sie bei Männern segregierend wirken, weil bevorzugt Bekanntschaften mit gleichsprachigen Personen geschlossen werden. Eine fehlende Arbeitserlaubnis während des Aufenthalts in der Aufnahmegesellschaft verschärft das Problem, denn „der Status, den man hier hat, verwehrt auch Erwerbstätigkeit“. Es kommt also kaum zum Austausch mit der Aufnahmegesellschaft, sondern im schlimmsten Fall zu einer Herausbildung abgeschlossener Gemeinschaften (etwas unglücklich als „Parallelgesellschaft“ bezeichnet).

Auch wenn das nicht alle Interviews zeigen, beobachten viele ExpertInnen überproportional großen Anteil männlicher Teilnehmer in Sprachkursen. Sie sehen die Notwendigkeit, Männer und Frauen darüber aufzuklären, dass beide Partner die Sprache lernen müssen. Das erfordert eine andere Form der Arbeitsteilung, allen voran aber eine beidseitige prinzipielle Offenheit gegenüber neuer Genderaspekte, wie Gleichberechtigung der Geschlechter, Respekt gegenüber dem anderen Geschlecht und Chancengleichheit in der Integrationsarbeit.

Methodik:

Die Ergebnisse resultieren aus 12 persönlichen leitfadengestützten Interviews mit ExpertInnen aus dem Migrations- und Integrationssektor (NGOs, die in der Betreuung von AsylwerberInnen tätig sein, SozialarbeiterInnen von Flüchtlings- und AsylantInnenheimen), der Familien-, Spiele- und Islamforschung und aus Verwaltungseinrichtungen der kommunalen Ebene sowie aus 19 persönlichen Tiefeninterviews mit AsylwerberInnen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, dem Iran und dem Irak (9 Frauen und 10 Männern).

AnsprechpartnerInnen:

Frau Mag.a Ulli Röhsner
Tel.: 01 / 877 22 52
E-Mail: u.roehsner@makam.at

Herr Maximilian Belgibaev, MA
Tel.: 01 / 877 22 52
E-Mail: m.belgibaev@makam.at