NEU: Download der Gesamtstudie

Projekthintergrund:
Ein barrierefreies Verkehrssystem, das allen gesellschaftlichen Gruppen in gleichberechtigter Weise Zugang zur Mobilität ermöglicht, gehört zu den Grundprinzipien eines modernen, demokratischen Gemeinwesens. Im Generalverkehrsplan Österreich wird gleichberechtigte Mobilität als „leistbare und bedarfsgerechte Mobilität für alle“1 als Herausforderung mit hohem Anknüpfungspotenzial bzw. -bedarf definiert.
Die Europäische Kommission hat im Aktionsplan urbane Mobilität als „Aktion 5“2 die Verbesserung der Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehr für Personen mit eingeschränkter Mobilität als strategisches Ziel festgeschrieben. Damit erfüllt sie Verbindlichkeiten, die sie im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte der Menschen mit Behinderung eingegangen ist, das auch in Österreich seit 26. Oktober 2008 gilt.3

Die Prävalenzraten für psychische Erkrankungen in der österreichischen Bevölkerung sind schwierig zu ermitteln, da die Dunkelziffer der nicht diagnostizierten oder therapierten Erkrankungen hoch ist. Studien des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträgerzeigen auf, dass 10 % der Bevölkerung an mindestens einer psychischen Erkrankung leiden. Das Max Plank Institut für Psychiatrie in München geht sogar von einer geschätzten Lebenszeitprävalenz von Angsterkrankungen von bis zu 25 % aus.5 Derzeit kann eine steigende Anzahl psychischer Erkrankungen in der EU und auch in der österreichischen Bevölkerung beobachtet werden.

Bisherige deutsch- und englischsprachige Studien zur Verkehrsteilnahme vulnerabler Personengruppen sowie deren Mobilitätsbarrieren und Zugangsmöglichkeiten zum Verkehrssystem beschäftigen sich im Wesentlichen mit bewegungseingeschränkten Personen (z. B. Geh-, Seh- und Hörbehinderte), wahrnehmungseingeschränkten Personen (z. B. Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose), älteren Personen (65 plus) oder generellen Angsträumen im öffentlichen Raum, aber nur in seltenen Fällen mit Personen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen (Demenz, Angststörungen, Phobien).

Angewandter Methodenmix:
Die Sondierungsstudie PHOBILITY beschäftigt sich zum ersten Mal in Österreich mit den Schwierigkeiten bei der Verkehrsteilnahme von Menschen, die an Phobien, Angst- und/oder Zwangsstörungen leiden. Neben einer Analyse von Mobilitätsbarrieren unterschiedlicher vulnerabler Gruppen, einem Abriss unterschiedlicher Phobien, Angst- und Zwangsstörungen sowie deren Erklärungsmodellen und einem theoretischen Rahmen, der es erlaubt, Mobilitätsbarrieren der Betroffenen zu konzeptualisieren, wurde in PHOBILITY ein Methodenmix aus Einzelfallstudien und Gruppendiskussionen mit der Zielgruppe der Betroffenen sowie aus ExpertInneninterviews und einem ExpertInnenworkshop gewählt. Einzelfallstudien (Kombination aus problemzentrierten Interviews, GPS-Erhebungen und Wegbegehungen) waren das Kernstück des Projekts, wodurch die individuellen Möglichkeiten, aber auch Einschränkungen der Verkehrsteilnahme von Personen mit Phobien, Angst- und Zwangsstörungen verstanden und erklärt wurden. Die durchgeführten Gruppendiskussionen dienten der Ergänzung der Fallstudien (komplementärer Einsatz) und der Plausibilisierung und Überprüfung der Mobilitätsbarrieren und Bewältigungsstrategien. Die Ergebnisse wurden mit ExpertInnen aus den Bereichen Verkehr und Gesundheit diskutiert und eine konkrete Umsetzbarkeit von Praktiken und Maßnahmen erarbeitet. Durch diesen Methodenmix konnte das Ziel erreicht werden, valide Forschungsergebnisse aus qualitativer Forschung ableiten zu können. Ebenso wurden theoretische Konzepte der soziologischen Literatur mithilfe von Fallstudien überprüft und mit Blick auf die spezifischen Problemlagen der Betroffenen konkretisiert.


Projektergebnisse:

Die Studie lenkt den Blick auf die Interaktionsprobleme im öffentlichen Raum, was auch die Verkehrsteilnahme umfasst. Zunächst konnten zwei Grundprobleme identifiziert werden: (1) der Verlust der Fähigkeit, Situationen als ungefährlich wahrzunehmen und begrenzte Irritationen als harmlos einzustufen, (2) der Verlust der Fähigkeit, Ansprüche auf Raum einzufordern (z. B. Durchgelassenwerden, um zu einem Sitzplatz oder zum Ausstieg zu kommen) bzw. die eigenen körperlichen Grenzen ständig als bedroht wahrzunehmen.

Auf Basis dieser Grundstruktur konnte eine Reihe konkreter Mobilitätsbarrieren identifiziert werden, die in vielen Fällen zusammenwirken:

Das betrifft die öffentlichen Verkehrsmittel selbst, die nicht immer eine uneingeschränkte und barrierefreie Benützung ermöglichen, da einem akuten Ausstiegsbedürfnis oftmals nicht sofort nachgegangen werden kann und keine Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Auch Ausstattungselemente in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie z. B. eine geringe Anzahl an Einzelsitzplätzen oder automatisch schließbare Fahrzeugtüren, können ein Gefühl von Unbehagen und Flucht- oder Vermeidungsbedürfnis bei den Betroffenen auslösen.

Hinsichtlich der Verkehrsinfrastruktur finden sich ähnliche Barrieren: Beengende und dunkle Gänge/Räume ohne Fluchtmöglichkeit, die die Orientierung erschweren oder fehlende Rückzugsmöglichkeiten in Stationen können dazu beitragen, dass Personen mit Phobien, Angst- und/oder Zwangsstörungen bestimmte Verkehrsmittel, Wege oder Bereiche der Verkehrsinfrastruktur (z. B. Aufzüge) nicht in Anspruch nehmen.

Die Präsenz anderer Fahrgäste kann bei Betroffenen in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Stationen Angst auslösen, weil sie entweder die Flucht erschweren oder weil sich die Betroffenen fremden Blicken ausgeliefert fühlen. Daher werden von den Betroffenen Hauptverkehrszeiten wenn möglich gemieden, damit sie den oft stark überfüllten Verkehrsmitteln ausweichen.

Menschen mit Phobien, Angst- und/oder Zwangsstörungen haben ein hohes Informations- und Planungsbedürfnis. Sie planen ihre Routen in der Regel sehr ausführlich vor Antritt ihrer Wege. Unvorhergesehene Ereignisse, wie beispielsweise Routenänderungen bei Baustellen oder Fahrplanänderungen, können Angstzustände begünstigen. So kann auch ein Mangel an Informationen, wie schlecht lesbare oder schwer verständliche Fahrpläne, Beschilderungen oder sonstige Orientierungshilfen, dazu führen, dass die betroffene Person glaubt, die Situation nicht kontrollieren zu können. Verstärkt wird diese Situation dadurch, dass sich Betroffene oft nicht trauen, Fremde anzusprechen und offizielle Ansprechpersonen meist nicht verfügbar sind.

Auch können fehlende Erfahrung und Ortskenntnis, wie unbekannte Fahrtrouten oder ungeplante Zwischenstopps, eine Mobilitätsbarriere sein.

Ein weiteres Element potenzieller Mobilitätsbarrieren können Krankheitssymptome sein, wie z. B. Harndrang, Unsicherheit oder Aufmerksamkeitsstörungen.

Neben der Analyse der Barrieren wurden das derzeit von der Zielgruppe eingesetzte Vermeidungsverhalten sowie mögliche Bewältigungsstrategien ermittelt, die von Betroffenen angewendet werden, um Wege dennoch zurücklegen zu können. Zudem wurden potenzielle Lösungsstrategien erhoben, die eine Erleichterung für die Zielgruppe bieten. Unter einer Bewältigungsstrategie wird ein Element der Situation oder des Handelnden verstanden, das diese Situation als hinreichend sicher definiert, um die eigenen Handlungsziele darin umsetzen zu können. Sie helfen einer Person dabei, sich einer Situation anvertrauen zu können, indem sie entweder das normale Erscheinungsbild stabilisieren oder die Personen bei der Etablierung von Territorien des Selbst unterstützen.

Folgende wesentliche Bewältigungsstrategien und/oder Lösungsstrategien wurden im Rahmen der Studie ermittelt:

Selbstablenkungs- und Selbstmanipulationstools: Als mögliche wesentliche angstreduzierende Maßnahme erachten viele Betroffene Cooling-down-Techniken, wie beispielsweise Musik, Videos, Spiele, Fotos, Bücher, Meditationen, Atemübungen usw.

Informationsangebote: Die Zurverfügungstellung ausreichender und verständlicher Informationen vor und während des Weges/der Fahrt gibt den Betroffenen Sicherheit und reduziert angstauslösende Faktoren.

Bewusstseinsbildende Maßnahmen: Um die Entstigmatisierung der Erkrankung zu fördern und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken, erscheinen bewusstseinsbildende Maßnahmen, die alle VerkehrsteilnehmerInnen adressieren, als hilfreich.

Räumliche und infrastrukturelle Veränderungen: Das Angebot an Rückzugsmöglichkeiten im öffentlichen Verkehr in Form von eigenen Abteilen in Zügen oder Aufenthaltsräumen in Stationen, Panikräumen und Ähnlichem, sowie die Möglichkeit, sanktionslos die Notbremse oder eigens installierte Alarmknöpfe zu betätigen, erachten die Betroffenen als weitere Form der Unterstützung.

Personelle Sicherheitsaspekte: Die Bereitstellung qualifizierter AnsprechpartnerInnen (sei es direkt vor Ort oder über Notrufnummern schnell alarmierbar) wird als wirksame Bewältigungsstrategie angesehen. Die Schulungen von MitarbeiterInnen öffentlicher Verkehrsbetriebe (bestehendes Personal) bzw. aller interessierten Personen (ehrenamtliche UnterstützerInnen) können ein dichtes Netzwerk an gewünschten UnterstützerInnen bilden.

Für die Zielgruppe sollten also Wege gefunden und Mechanismen formuliert werden, um sie dabei zu unterstützen, am sozialen Leben (wieder) – und somit auch am Verkehr – teilnehmen zu können. Eine grundlegende Bedingung für adäquate Verkehrsteilnahme ist, dass Ängste, die im Zusammenhang mit der Verkehrsteilnahme auftreten können, für die Betroffenen hinreichend kontrollierbar sind.

Als wichtige und umsetzbare Lösungsansätze erachten die Betroffenen sowie Gesundheits- und VerkehrsexpertInnen neben Sensibilisierungsmaßnahmen in der Bevölkerung zur Entstigmatisierung der Betroffenen verschiedenste Selbstablenkungs-, Selbstberuhigungs- und Selbstmanipulationstools sowie Planungs- und Fahrtinformationen. Wesentlich ist nun, dass die im Rahmen von PHOBILITY erarbeiteten Lösungsstrategien gebündelt und leicht umsetzbar gemacht werden, da sich viele der Betroffenen aufgrund ihrer Angsterkrankung teils völlig aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen oder von öffentlichen Verkehrsmitteln auf den privaten Pkw oder auf das Fahrrad umsteigen.

Das Projekt wurde unter der Leitung von MAKAM Research GmbH gemeinsam mit dem Fachbereich Verkehrssystemplanung der Technischen Universität Wien und der Psychosoziale Zentren Gesellschaft mbH umgesetzt und vom Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie im Rahmen der Programmlinie Mobilität der Zukunft der FFG finanziell gefördert.

Nähere Informationen erhalten Sie bei MAKAM Research GmbH.

Die Gesamtstudie ist ab Ende April hier verfügbar.

1 BMVIT (2012). Gesamtverkehrsplan für Österreich. URL: http://www.bmvit.gv.at/verkehr/gesamtverkehr/gvp/downloads/gvp_gesamt.pdf [08.02.2016]

2 KOM (2009). Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Aktionsplan urbane Mobilität, KOM (2009) 490.

3 BMASK: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (2008). UN-Konvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Fakultativprotokoll. BMASK, Wien.

4 Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger (2012). Psychische Gesundheit – Strategie der österreichischen Sozialversicherung. Salzburg: Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger.

5 Max Planck Institut für Psychiatrie (2016). Angsterkrankungen. Die häufigsten Fragen. URL: http://www.psych.mpg.de/840889/angst [08.02.2016]